Tuesday, November 23, 2010

48 Charts

Es kommt vor, dass Piloten sich mit erschreckend banalen Dingen beschäftigen. Besonders auf Nachtflügen. Sie zählen beispielsweise Airport-Charts; jene Karten, die Rollwege und Standplätze illustrieren und anhand derer An- und Abflugverfahren sowie sämtliche Anflüge geflogen werden. Unentbehrliche Dokumente also, um die aviatische Mission erfolgreich und fehlerfrei durchführen zu können.

Manchmal übertreiben es die Flughafenbehörden einfach ein bisschen. Auf dem Flug nach Delhi und zurück stolpern der Copi und ich bereits im NOTAM (Notice to Airmen) bei der Planung über satte acht Seiten mit Angaben zu Delhi. Diese Zusammenstellung wichtiger Angaben zu Flugrouten und Infrastruktur der Flughäfen gehört zum Pflichtstudium bei der Flugvorbereitung. Die manchmal etwas kurrlig formulierten Informationen lesen sich weder so flüssig wie Donna Leon, noch sind sie intellektuell ergiebig wie Frisch und Dürrenmatt (damit mir keiner staatsbürgerliche Ignoranz vorwerfe...). Doch Pflicht ist eben Pflicht. Das lehren wir den Kindern bereits im Stillalter, den Junghunden im Welpenkurs und den Copiloten in der Streckeneinführung. Der erste Offizier und ich halten uns an die Vorgabe, auch wenn wir mit jeder gelesenen Seite die Übersicht ein bisschen mehr verlieren.

Zahlreiche Rollwege sind wegen Bauarbeiten geschlossen. Während des Fluges versuchen wir diese Angaben auf die Flughafenkarten zu übertragen. Wir überprüfen geänderte Frequenzen von Navigationshilfen und verifizieren Kursangaben, die für An- und Abflugverfahren verwendet werden.
Beim Durchblättern der entsprechenden Seiten, es sind ausnehmend viele, beginne ich zu zählen. Mich trifft fast der Schlag: Während durchschnittliche Flughäfen ihre Angaben auf vielleicht 20 Karten publizieren, verteilen die indischen Behörden diese Daten auf nicht weniger als satte 48 Airport-Charts! Doppelseitig beschriftet, versteht sich. Da läppert sich eine stattliche Lektüre zusammen. Dagegen nehmen sich die 34 Karten von London Heathrow direkt bescheiden aus, und New York JFK figuriert mit läppischen 24 Seiten quasi unter „ferner liefen“. Einzig die Frankfurter vermögen die Inder mit 58 Blättern zu übertrumpfen. Nicht dass wir jede Zeile studieren müssten, die Krux liegt eher darin, herauszufinden wo sich die wichtigen Infos verbergen.

Zweieinhalb Stunden bleiben uns dafür, dann leiten wir den Sinkflug ein. Inzwischen hat sich ein sanfter Nebelschleier über die Hauptstadt Indiens gelegt. Für unsere Landung allerdings kein Problem.

Im Verlauf der folgenden Bodenzeit stelle ich jedoch mit Besorgnis fest, wie sich die Schwaden im Scheinwerferlicht des Flugfeldes zunehmend verdichten. Als wir die Freigabe für den Triebwerkstart erbitten müssen wir hören, dass im Moment sämtliche Maschinen Startverbot erhalten. Die Sicht pendelt mittlerweile zwischen 150 und 200 Meter. Mir schwant Übles. Alsdann beginnen die Diskussionen am Funk: Niemand scheint genau zu wissen, welche Sichtweiten für einen Start erforderlich sind. Nach einer Weile fragt der Controller jede Maschine nach dem individuellen Startminimum. Wer 150 Meter akzeptiert, kann die Triebwerke starten. Wer mehr braucht, bleibt vorerst hängen. Wir stossen unseren Airbus zurück, reihen uns ein in der Schlange der Wartenden. Die Rollverhältnisse erweisen sich als anspruchsvoll. Vor uns wälzt sich träge eine B777 der Air India Richtung Pistenanfang. Nach wenigen Minuten erhalten die Piloten die Startfreigabe. Die beiden Triebwerke heulen auf, die Räder beginnen zu drehen, dann wird die Maschine vom Nebel verschluckt. Nach fünf Minuten ist die Reihe an uns. Ich schiebe die vier Gashebel nach vorne. Erleichtert darüber, dass wir nicht in dieser unberechenbaren Suppe stecken bleiben, der wir in dieser Nacht auch mit 48 Flughafenkarten nicht mehr entkommen wären.

11 comments:

Young pilot said...

Super Bericht, danke dafür!

Gruss

Roman, ein regelmässiger Leser

Anonymous said...

Danke für den interessanten Bericht! Darf ich als Mitarbeiter in FRA fragen, warum dort die meisten Informationsblätter benötigt werden? Ist das wegen des Neubaus einer Landebahn oder permanent?

DAnke, Nils.

Crowi said...

etwas "kurrlig" formulierte Infos...

Kurrlig - das ist Schwyzerdüütsch für "verschroben", meine ich.
Vielleicht nahe verwandt mit "skurril";
entfernter mit "kurios".

So kurios wie "48 Charts".

Dide said...

@Young pilot: Danke!

@Crowi: Etwas "Schwiizerdütsch" darf schon sein. Letztlich sprechen wir ja alle die selbe Sprache: Deutsch eben, mit unterschiedlichen Dialekteinflüssen...

@Anonymous: Antwort folgt...

Anonymous said...

Das würde mich freuen. Vielen Dank im Voraus!

Nils

Dide said...

@Anonymous: Die Anzahl der Airport-Charts wird in erster Linie durch die Grösse eines Flughafens bestimmt. Das ist nachvollziehbar, denn wer mehr Pisten bedient, verfügt logischweise über eine grössere Zahl von Anflugverfahren. Weiter sind aber auch die Einschränkungen massgebend, mit denen ein Flughafen konfrontiert ist: Lärmauflagen beispielsweise verlangen, abhängig von der Tageszeit, mehrere An- und Abflugrouten für die gleiche Piste. Anspruchsvolles Gelände oder eine komplexe Pistenanordnung (Parallel, kreuzend) sind ebenfalls von Bedeutung. Weiter dürfen und können nicht alle Flugzeugtypen oder -kategoiren die selben Verfahren fliegen. Ausserdem beinhalten oftmals alleine die allgemeinen Ausführungen bereits überdurchschnittlich viele Paragraphen. Erklärungen zu "Low Visibility" Verfahren, zur Winteroperation (Enteisungsverfahren)oder zur Benutzung von Rollwegen und Vorfeld.
Frankfurt verfügt über 5 Seiten mit allgemeinen Anweisungen, 7 Seiten mit Anflugrouten, sagenhafte 34 Seiten mit Abflugrouten, 6 Seiten mit Karten zum Flugplatzlayout (Pisten-, Rollwegsystem) und 6 Anflugkarten. Ein absoluter Spitzenreiter.
Letztlich gilt festzuhalten, dass es die lokalen Behören sind, die in Absprache mit den Flugämtern diese Verfahren festlegen. Damit ist auch klar, dass diese Karten immer auch ein bisschen die Ansprüche (und damit den Charakter) eines Landes widerspiegeln. Wie immer Mann und Frau das interpretieren wollen...

Gruss

Anonymous said...

Herzlichen Dank für die aufschlussreiche Antwort!

Ich hätte immer erwartet, dass amerikanische Flughäfen mit ihren vielen, sich oft kreuzenden Pisten ganz weit vorne wären. Aber interessant zu wissen, das dem nicht so ist sondern wohl v.a. die Lärmauflagen verantworlich sein dürften für die zahlreichen Abflugrouten.

Danke, Nils.

Dide said...

Nils, die amerikanischen Plätze liegen ebenfalls weit vorne. Im Gegensatz zu den europäischen Plätzen verfügen sie aber v.a über wesentlich einfachere Abflugverfahren. Was in Frankfurt 34 Seiten benötigt, geht in JFK auf drei oder vier. Die Flugzeuge werden kurz nach dem Start individuell von der Radarleitstelle geführt und folgen nicht einer vorgegebenen Route.

junior freight dog said...

kann mich young pilot nur anschliessen!

In unseren breiten mischt sich zum nebel nun auch wieder "FZ", aber die chancen dafür stehen in indien ja eher gering ;)

grüsse

Flo said...

Wieder mal sehr interessant zu lesen ;)

Bei 48 Charts stellt sich mir die Frage: bereitet man das zum Teil auch schon zu Hause vor dem Flug vor?
Grade mit Flug besprechen/ NOTAMs usw. wäre es beim Briefing vor dem Flug ja besser, wenn man bereits etwas mit den Procedures vertraut ist, oder?
Und habt ihr die genaue SID beim Abflug eigentlich im Kopf gespeichert, so dass die Charts eigentlich nur noch Back- Up sind?

Würde mich mal interessieren.. Danke für die Antwort, guten Flug ;)

Dide said...

@Young pilot: Vielen Dank, in der Tat kennen wir hier den Freezing fog nicht...

@Flo: Nach einigen Jahren kennt man die Eigenheiten der einzelnen Destinationen. In der Planungsphase eines Fluges gilt es v.a., operationelle Eigenheiten, die direkte Konsequenzen für den Flugverlauf und/oder den Petrolverbrauch mit sich bringen, abzudecken.
SID's haben wir nicht gespeichert. Die Verfahren (SOP=Standard Operational Procedures) verlangen, dass die Route auf der Karte mit der Eingabe im Bordcomputer (FMS) verglichen wird. Stimmen die Daten überein, kann primär nach der programmierten Route geflogen werden, die Karte dient lediglich als Backup.

Gruss