Bereits sitze ich wieder in einem Hotelzimmer. Nach dem Hudson River hat es mich an die Themse verschlagen. Wo vor wenigen Tagen noch isländische Vulkanasche jeglichen Flugverkehrt erstickte, taucht heute gleissendes Sonnenlicht die Stadt in bunte Frühlingsfarben.
Meine Reserve hat gestern Morgen um 1000 Uhr begonnen. Um 1001 Uhr, ich hatte mich eben aus dem Bett gekämpft, klingelte mein Handy.
„Good morning Dieter, Crew Control“ haspelte eine eilig wirkende Frauenstimme. „We need you for a London flight, reporting time is 0750h.“ Verwirrt blickte ich auf meine Breitling. “0750h…? Ah, you mean GMT...?”
„Yes, that’s correct.“
Alles klar, das reicht noch für einen Kaffee. Franziska sitzt am Esstisch und lernt. Das heisst, sie läuft sich lerntechnisch warm, und löst ihr tägliches Sudoku. Anders als beim richtigen Sport, kann sie hier aufs Aufwärmen nicht verzichten.
Auch Tim hat sich wieder einmal für einen sportlichen Wettkampf von zu Hause abgemeldet. Zusammen mit dem „Track and field“-Team seiner Schule nimmt er während vier Tagen an den EMAC-Wettkämpfen (Eastern Mediterranean Activities Conference) in Kairo teil. Er hat sich schulintern für die Sprint-Disziplinen und den Dreisprung qualifiziert. Für Traumresultate am grossen Wettkampf reicht es allerdings nicht. Im 110 Meter Hürdenlauf landet er auf dem zehnten Platz unter 24 Teilnehmern. Und mit der 100 Meter Staffel kämpft er sich in den Final, wo es allerdings "nur" für einen achten Platz reicht.
Vor zwei Wochen waren die Erfolgserlebnisse üppiger: Beim grössten internationalen Eishockeyturnier der Emirate in Dubai spielte sich eine verstärkte Auswahl der Abu Dhabi Scorpions ins Halbfinal, wo sie einer höchst professionell autretenden Russen-Auswahl gegenüber standen. Die Sputniks wurden mit eigenem Mannschaftsbus zum Stadion gefahren und von einer TV-Equippe begleitet. In ihren Reihen befanden sich einige ehemalige Spieler von ZSKA Moskau. Nicht mehr die Jüngsten zwar, aber hervorragende Schlittschuhläufer. Die Skorpione verloren 1:4. Vergleicht man das spielerische Potential beider Teams ist dies eine tolle Leistung. Dass die Russen das Turnier gewannen und die tschechische Mannschaft gleich mit 8:1 abfertigten, hat niemand überrascht.
Für Tim sind die letzten beiden Abu Dhabi Monate angebrochen. Er steckt mitten in den Vorbereitungen zu den High School- und IB-Examen, die im Verlauf des Monats Mai anstehen. Die „Graduation“-Feier ist auf den 3. Juni angesetzt.
Mit seinem Wegzug von Abu Dhabi schliesst sich ein kleiner Lebenskreis. Nach vier Jahren in den Emiraten (Mir ist, als wären wir erst gestern angereist...) beginnt für ihn ein neues Kapitel. Es scheint, als würde er sich darauf freuen. Wie er mit der Tatsache klar kommen wird, dass seine Freundin weiter in Abu Dhabi zur Schule geht, ist eine andere Angelegenheit.
Dass Tims Wegzug auch meine persönliche Zukunft beeinflusst, wird bereits in diesen Tagen spürbar.
Franziska und die beiden Mädchen wollen umziehen. Näher zur Stadt. Hinein ins volle Leben! Linda und Nina streben nach mehr Unabhängigkeit. Zugegeben, es wird immer schwieriger, ein Taxi zu unserem Haus zu organisieren. Mittlerweile sind wir umzingelt von Baumaschinen jeglicher Grösse und Art. Die Salam-Street wird zum mehrspurigen Highway umfunktioniert, neben uns schiessen neue Compounds wie Pilze aus dem Sand. Beinahe wöchentlich ändert die Strassenzufahrt wegen der Eröffnung neuer Baugruben.
Ausserdem vermag die von meinem Arbeitgeber entrichtete „Housing-Allowance“ von jährlich 170'000 Dirham die Mietausgaben für unser Haus nicht zu decken. Im August wird der Zins um weitere fünf Prozent auf rund 220'000 Dirham erhöht. Eine Anpassung an den lokalen Markt scheint für Etihad kein Thema. Es sind genügend Piloten vorhanden. Viele Arbeitskollegen ziehen in der Folge nach Dubai, wo nach dem Kollaps des vergangenen Jahres für wesentlich weniger Geld mehr Wohnraum angeboten wird.
Würden wir in einer vom Arbeitgeber gestellten „Company provided accommodation“ leben, müsste ich keinen Fils aus eigener Tasche einschiessen. Wir könnten dank geringerer Kosten für Miete, Schulbus, Auto, Wasser und Strom jeden Monat 4500 Dirham einsparen. Das entspricht immerhin rund 1300 Schweizer Franken. Ein happiges Argument, das einleuchtet. Trotzdem möchte ich nicht umziehen.
Etihad bietet abgelegene Villen im Wüstensand oder urbane Wohnungen ohne Auslauf. Ersteres kommt nicht in Frage. Ich schlage Franziska vor, einen befreundeten norwegischen Piloten in einer der Stadtwohnungen zu besuchen. Die Hoffnung, die reduzierten Dimensionen würden meine Gattin abschrecken, zerschlagen sich schnell. Franziska zeigt sich freudig angetan! Ich gehe einen Schritt weiter, und organisiere die Besichtigung einer leeren Wohunung im gleichen Gebäude. Allerdings im Beisein der Mädchen und des zu Besuch weilenden Schwiegervaters. Auch Nemo, Lindas Freund, ist mit von der Partie. Gespannt warte ich auf das erste Anzeichen einer Enttäuschung. Mir wäre alles recht: ein trauriger Blick, ein Kopfschütteln, ein stiller Seufzer. Stattdessen wird gejubelt, getanzt, gelacht! Linda und Nina diskutieren bereits – für einmal in inniger Übereinstimmung – die Zuteilung der Zimmer, positionieren imaginäre Betten und Kommoden. Franziska erfasst entschlossenen Schrittes sämtliche Zimmermasse, und sogar dem sonst so naturverbundenen Schwiegervater aus dem Emmental gefällt der lichtdurchflutete Vogelkäfig. Einzig Nemo wirft mir vereinzelt verstohlene Blicke zu; Ich deute dies als Ausdruck seiner juvenil-maskulinen Irritation. Schweigend betrachte ich das gespenstische Hüpfen und Lachen. Das Aufeinanderprallen von weiblicher Spontaneität und männlicher Rationalität.
Demokratisch gesehen stehe ich auf verlorenem Posten. Unser Hausvertrag läuft im August aus, bevor Franziska, Linda und Nina im Sommer aus der Schweiz zurückkehren werden. Daher müsste ein Umzug vor unseren Ferien im Juni stattfinden. Diese enge Terminierung scheint Frau und Töchter nicht zu bremsen. „Schliesslich sparen wir Geld!“ hallt es in meinem Ohr. Vorsichtig werfe ich ein, dass wir bis Mitte Mai Besuch im Haus hätten, dass überdies in der ersten Juniwoche Tims "Graduation" und Ninas Konfirmation anstünden. Meine Worte verpuffen im Niemandsland.
Die Mädchen freuen sich auf Schulfreundinnen unter dem gleichen Dach oder in unmittelbarer Fussdistanz. „Taxis in Hülle und Fülle Papi, da musst du uns nicht mehr in die Stadt fahren...“
Versonnen schweift mein Blick aus dem Londoner Hotelfenster. Auslandaufenthalte haben auch etwas Positives. Sie bieten Raum zum Sammeln neuer Energien, zum Aushecken ausgeklügelter Strategien. Heute Nacht fliege ich wieder zurück nach Abu Dhabi. Meine Gedanken neu geordnet. Der Kampf kann weitergehen. Allein, die Übermacht, sie droht mich zu erdrücken...
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6 comments:
allzu oft ist man gegen Frauen einfach machtlos, vielleicht gibts ja noch ein kleines Wunder... Grüsse in die Wüste, Severin
Severin hat Recht....Frauen!Muss man(n)nicht verstehen,oder?
Hat Etihad ähnliche Viertel wie es bei EK das silicon oasis ist?Oder sind es einfach einzelne Häuser ,die überall verstreut stehen?Quasi so wie zu früheren EK Zeiten.Als ich vor einigen Jahren beim EK interview war,haben wir uns die Häuser angeschaut.Ich fand es sehr nett(natürlich die company accomodation ausgenommen:)).Spart aber auch sehr viel Geld.
Also ganz ehrlich,so ein Appartment in dem man wahrscheinlich nicht einmal alle Fenster öffnen kann,mit einem Pool auf dem ´Dach´.Zwar zentral gelegen ,aber doch irgendwie nicht das was man sich vorstellt.
Viel Glück beim Überzeugen.Wird schon!Gruss !Mario
Apropos Demokratie: Soweit ich informiert bin, zählt die Stimme der Frau im Wüstenland lediglich 1/2, wobei die Männerstimme doppelt punktet. Demnach wären die Frauen auf verlorenem Posten ...(Grins)
Jedoch kann ich beide Parteien gut verstehen! Eventuell könnte man sich darauf einigen, einen Käfig mit Auslauf zu finden? Dabei sollten die süssen Scheichas auf keinen Fall ausser Acht lassen, wie sehr das Familienoberhaupt - nach oft bis zu 15-stündigem Ausharren auf allerengstem Raum -
etwas Auslauf benötigt ...!!
Good luck, VW
@Severin: Ein grosses Wort gelassen ausgesprochen... Doch hoffen darf mann immer!
@Mario: Etihad verfügt über Villenkomplexe in Khalifa City, einer im Aufbau begriffenen, ziemlich sandigen Gegend unweit des Flughafens. Dafür dauert die Fahrt ins Stadtzentrum etwas länger.
Weiter bietet die Firma auch Wohungen an. Hier handelt es sich um einzelne Gebäude, in denen Etihad eine Mehrzahl der Einheiten für Piloten freihält. Die Kabinenbesatzungen wiederum sind in anderen Gebäulichkeiten untergebracht.
@Anonymous: Auch nach vier Jahren im Sand kommen in unserer Familie lediglich europäisch genormte Gesetzesartikel zur Anwendung. Das ist für mich, hier im Lande der Haremskultur, eher nachteilig, spart mir allerdings den einen oder anderen Dirham!
Im übrigen bedanke ich mich allseits für die mitfühlenden Worte...
IHNEN traue ich die moralische Grosszügigkeit zu, dass sie glücklich sind, wenn Frau und Töchter glücklich sind.
@crowi: ...diese Worte muss ich sogleich meinen Frauen zeigen...
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