Monday, April 28, 2008

Sand und Schnee

Ein Samstagmorgen in der Schweiz. Einsamer Reisender in einem SBB-Wagen der 1. Klasse von Winterthur, meiner Heimat- und Geburtsstadt nach Genf. Ein Frühlingstag wie er schöner nicht sein könnte. Die frühen Sonnenstrahlen erleuchten die scheinbar rhythmisch vorbeiziehende Landschaft. Vor meinem Fenster reihen sich die Bilder und Eindrücke nahtlos aneinander und vermitteln den Eindruck eines von Meisterhand inszenierten Naturfilms. Der staunende Reisende vergisst darüber, dass es in Tat und Wahrheit nicht die Wohnlandschaften, Wiesen und Wälder sind, die sich verschieben, sondern vielmehr die raupenförmige Zugkombination, die auf subtil gelegtem Schienenstrang das Land traversiert.

All animals are equal
Die Schweiz, mein Heimatland. Patria mia. Jeder Eidgenosse ist stolz auf die Tugenden Helvetiens; Die „-keiten“ reihen sich ähnlich aneinander wie die 22 Kicker zweier Fussballmannschaften vor dem Champions League Spiel: Sauberkeit, Genügsamkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit. Ausserdem sind wir weltberühmt für unsere Schokolade, unseren Käse, unsere Kühe, unsere Jodler, unsere Alphörner und unsere Uhren. Die Banken, dereinst Aushängeschild mit vorzüglichem Ruf, haben sich gewandelt zu verbeulten Werbetafeln mit zwielichtigem Renommé. Doch sie sorgen nach wie vor dafür, dass die Welt von der Schweiz redet. Die Bundesverfassung bildet das Fundament zahlreicher nationaler Meriten, ist Grundlage unseres Rechtssystems und Garant für rechtsstaatliches Handeln und Denken. Politische Institutionen sorgen dafür, dass Gesetze eingehalten und Verfehlungen geahndet werden. Man stellt Bussen aus, verhaftet Rechtssünder, fällt Gerichtsurteile. Mehr noch. Unsere Regierung belegt den Tschad mit Sanktionen, weil das Land die von uns gekauften Pilatus-Flugzeuge nicht vertragskonform eingesetzt hat. Dass immer wieder auch Exponenten politischer Behörden oder anderer staatlicher Institutionen mit dem Gesetz hadern, scheint in der Natur des Menschen – auch des helvetischen – zu liegen. Dass den einen etwas mehr erlaubt ist als anderen, ebenfalls. „All animals are equal but some are more equal than others“! Das kennen wir doch...?
Ihr mögt euch nun fragen, wieso ich dazu komme, auf derartige Art und Weise die Vorzüge Schweizerischer Tugenden zu persiflieren. Vielleicht, weil ich in einer Airline, die Menschen aus über 80 verschiedenen Nationen beschäftigt, immer wieder mit vermeintlichen Vor- und Nachteilen diverser Länder konfrontiert werde, mit Clichés, die über viele Jahre gewachsen sind, um irgendwann zu verschmelzen mit Vorstellungen anders Denkender. Dabei gibt es so viele kleine und grosse Beispiele, die belegen, wie sehr die Ausnahme die Regel bestätigt. Überhaupt: Wann ist eine Ausnahme eine Ausnahme im eigentlichen Sinn, und wer bestimmt, wann die Ausnahme zur Regel verkommt? Die Frage liesse sich natürlich auch umgekehrt formulieren. Die Antwort gründet wohl kaum ausschliesslich in prozentualen Mehr- oder Minderheitsrelationen.

Juristische Wundertüte
Dem Gesetz entgegen steht die Willkür. Eigenschaft mancher Herrscher und Diktatoren. Wer aber glaubt, solch despotisches Verhalten wäre ausschliesslich in unterentwickelten oder ungenügend geregelten Staatsformen anzutreffen, der täuscht. Nicht nur bei Toyota ist „nichts unmöglich“, das wahre Leben lässt ebenso Spielraum für Überraschungen zu.
Seit zwei Jahren versuchen wir, die Eigentumsverhältnisse der vor der Abreise in die Emirate gekauften Ferienwohnung im Berner Oberland zu entwirren. Drei Parteien, der Notar eingeschlossen, haben den damaligen Kaufvertrag unterschrieben. Doch alsbald stellt sich heraus, dass für den gemäss Formulierung ausschliesslich uns gehörenden Dachstock auch andere Stockwerkeigentümer Besitzansprüche geltend machen. Glauben wir zu jenem Zeitpunkt noch in naiver Verblendung an die Aussagekraft Eidgenössischer Verträge, so werden wir im Verlauf der vergangenen 24 Monate eines Besseren belehrt. Weder der grossmundige Notar noch die widersprüchlichen Aussagen des Grundbuchamtes vermögen Klarheit in die Angelegenheit zu bringen. Ein Anwalt wird eingeschaltet, scheint sich aber mit diversem Kleingedrucktem schwerzutun. Man stelle sich vor: Ein (vermeintlich) vertraglich geregelter Kauf einer Wohnung entpuppt sich im Rechtsstaat Schweiz als juristische Wundertüte, deren Zündschnur auch nach zwei Jahren noch feuchtet. So warten wir also weiter auf den grossen Knall und begleichen derweil artig die Telefon- und Internetspesen unseres Anwalts.

Gegensätze
Die Aussicht vom Balkon der Ferienwohnung lassen wir uns deswegen nicht vermiesen. Genauso, wie wir uns auch den Aufenthalt in Abu Dhabi nicht durch gewisse an der Tagesordnung liegende vertragliche Unzulänglichkeiten verderben lassen.
Ein kurzer Blick aus dem Fenster des fahrenden Zuges überzeugt mich einmal mehr von den topografischen Schönheiten unseres Landes. Ich gerate ins Grübeln und laufe in Gefahr, den Faden zu verlieren, schweife ab. Die mittlerweile hoch am Himmel stehende Sonne spiegelt sich im Genfersee. Im Hintergrund türmen sich massige Berggipfel mit schneeweissen Kappen. Der Schnee ist, trotz krassen Gegensätzen, ein Pendant zum Sand: Sand und Schnee prägen in vielfältiger Form weitläufige Landstriche, wenn auch in unterschiedlichen Breiten- und Längengraden. Man kann auf beiden Unterlagen rutschen, einsinken und sich wunde Hände schaufeln. Kann an die Füsse frieren oder sich die Sohlen verbrennen. Schnee und Sand wüten in Stürmen und hinterlassen unangenehme Spuren an Kleidern oder Haut, die es vor dem Betreten des Hauses abzuklopfen gilt.

Sand und Schnee – so gegensätzlich wie Rechtsstaat und Willkür! Und doch so nah beieinander.





8 comments:

Anonymous said...

Da gäbe es eine Menge Feed zu backen, bzw. backzufeeden.
Das Lesevergnügen begann schon mit der R&R Position, die Sie hier im Zug einnehmen. Nicht Rolls Royce, meine ich, eher Really Relaxed - oder beides.
Patria Mia
O Sole Mio
Ich wünschte Ihnen das Feedback Ihres Bloggerkollegen aus unserem südlichen Nachbarland. Ein gewisser Beppe Grillo, der es mit noch grösseren juristischen Wundertüten zu tun hat als von Ihnen geschildert. Er sagt von sich, er wisse nicht, ob er Don Camillo sei oder Peppone, und hat auf einen Blogeintrag sagenhafte, rekordverdächtige 3200 Kommentare erhalten.
Sie haben an George Orwell erinnert und seine "Animal Farm". Ich kenne seine Schriften nicht, aber sie sind bestimmt sehr lesenswert, auch seine Essays. Muss ich mal reinschauen - all die ungelesenen Bücher.
Ihr Abschnitt über die Ausnahme und die Regel hat einen gewissen staatsphilosophischen Charakter, und ich bin jetzt noch am Grübeln darüber, wo die Ausnahme aufhört und die Regel beginnt.

Ich hatte vor kurzem die Gelegenheit umzusteigen und deshalb eine Frage:
Der Umsteigebahnhof hiess Dubai Airport. Wir landeten auf dieser Drehscheibe zu nachtschlafener Zeit. Der Flieger wurde ziemlich weit ausserhalb geparkt, und nach einer Busfahrt über eine asphaltierte Fläche (grösser als der allergrösste Parkplatz, den ich je gesehen habe) wurden wir am Gate ausgeladen. Zu meiner Verwunderung sah es dort nicht aus wie am Züri-Hauptbahnhof um 3Uhr morgens, oder im Züri Airport. Eine gewaltige Menschenmenge war dort anzutreffen, und alle fünf Minuten startete eine Maschine, da offensichtlich diese ganze unüberschaubare Masse weiterverteilt werden wollte zu den entsprechenden Destinationen.
Auch wir starteten, nachdem wir umgestiegen waren, und schauten hinunter auf das Lichtermeer der Stadt.
Ich habe gehört, die Orientalen seien weniger geräuschempfindlich (und geruchsempfindlich) als wir Westler. Sind wir einfach zu heikel? Oder was ist der Grund für unsere Nachtflugverbote?
Das hat mich beschäftigt. Aber vielleicht ist das hier nicht der richtige Ort, dieses Thema zu erläutern und zu diskutieren.
Jedenfalls freue ich mich jetzt schon auf Ihre nächste Wundertüte.
Mit freundlichem Gruss

Dide said...

Lieber Crowi,

das Thema "Nachtflugverbot" ist eine delikate Angelegenheit. In der Tat könnte die Diskussion endlos geführt werden. Um es kurz zu machen:
Ich glaube nicht, dass die Araber weniger geräuschempfindlich sind. Der Unterschied liegt meines Erachtens im politischen System, das in Ländern wie der Schweiz oder Deutschland eine Vielzahl von Einsprachen zulässt. In den UAE liegt die Macht in den Händen einiger weniger Herrscher. Die Regierungschefs geniessen einen Sonderstatus. Sheikh Zayed beispielsweise, der das Land jahrzentelang regierte, wurde bedingungslos vergöttert. Niemandem käme es in den Sinn, Entscheidungen der Regierung anzufechten oder zu kritisieren. Es gibt kein "Referendum", keine "Motionen" oder "Einsprachen". Ob das gut oder schlecht ist, mag ich hier nicht beurteilen. Ich stelle lediglich fest, dass, bedingt durch gewisse Unterschiede, die Regierung grössere Autonomie geniesst.
Abgesehen davon strebt die Bevölkerung nach mehr Wohlstand und Geld, und damit nach (vermeintlich) mehr persönlichem Reichtum. Vor diesem Hintergrund scheint jedes Wachstum vorteilig und man nimmt auch die damit verbundenen Nachteile (Lärm) in Kauf.
Gruss

nff said...

... ist das nicht das Wunderbare an Ferienwohnungen, dass wir dort Ferien von allem machen können.

Als langjähriger Ferienwohnungsbesitzer (Copilotengrösse - so circa zwanzig Quadratmeter) im mondänen Engadin könnte ich bzw. habe ich von der Willkür ein Buch geschrieben. Gesetze werden in der Höhenluft anders interpretiert und angewendet. Manchmal mit humoristischen und manchmal mit teuren Folgen.

So hat unser geschätzter Hauswart über mehr als zehn Jahre mehr verdient, als der Swiss-Kapitän mit Senioritätsposition 1. Gemerkt hat dies ein Deutscher.

Ich freue mich auf Dein Buch über die Abenteuer am Zweitwohnungssitz. Es bekäme einen Ehrenplatz neben dem Jumbobuch.

Übrigens: einen Gruss vom Martin muss ich Dir ausrichten!

Dide said...

Danke für den Gruss! Und was das Buch betrifft, so bist du mir diesbezüglich um eine satte Copilotenlänge voraus. Habe noch nicht einmal angefangen. Und ich weiss auch nicht, ob Biografie (wie langweilig), Fiktion (wie unrealistisch), Fliegergeschichte (wie altmodisch) oder Erotikthriller (wie schön) mir am ehesten liegen würden...

Kommt Zeit, kommt Rat - wir müssen unbedingt einmal einen Kaffee zusammen trinken! Können ja den "G" auch gleich dazu einladen...

Gruss

nff said...

.... unbedingt!

Anonymous said...

Aha! Das dürfte die Rückseite der Spillgerten sein.

Die südliche Ausrichtung der Felsen auf der gegenüber liegenden Seite bieten beste thermische Bedingungen. Gerade im Frühling, wo die Sonne noch flacher steht, bieten die steilen und schneefreien Felswände beste Voraussetzungen für tolle Aufwinde für Segelflieger (ok, auch für die Gleitschirmler....)

Dies als Gratistip, falls sie auf dem Durchflug mit ihrem Fluggerät mal auf der tiefen Seite sein sollten :-)

Grüsse aus Thun

Dide said...

@einevobärn

Gut beobachtet - die Aufnahme wurde auf den Skipisten der Grimmialp gemacht.

Den Gratistipp werde ich mir merken, allerdings in der Hoffnung, nicht darauf zurückgreifen zu müssen...

Gruss

Anonymous said...

Toller kalt/warm Kontrast dieser beiden Bilder:

Das kühle Blau der sogenannten Spillgerten, und das Orange dieser Dünenhügel - wahrscheinlich ohne Namen und ungenannt.