Sunday, May 20, 2007

„Quand j’étais pilote“

Heute schreiben wir den 20. Mai. Exakt ein Jahr ist es her, seit ich an Tonis Seite den Flieger Richtung Abu Dhabi bestiegen habe. Pilot bin ich übrigens immer noch, anders als dies der Titel vermuten liesse. Die Bewandtnis ist eine andere.

Auf den ultralangen A340-500 Flügen mit doppelter Cockpitbesatzung nach New York und Sydney – und bald auch nach Toronto – setze ich mich während meiner Ruhezeiten wann immer möglich in einen leeren Sessel der „Diamond Class“. Bei der SWISS würde man ganz einfach von der „First Class“ sprechen, bei Etihad hingegen haben innovative Köpfe Altbewährtes neu benannt.
Ich entspanne mich am besten, indem ich einen Film anschaue. In der Regel pflege ich spätestens in der Mitte des Streifens einzuschlafen, in seltenen Fällen dauert es etwas länger. So kommt es, dass mir wohl der Anfang zahlreicher Filme bekannt ist, über das Ende weiss ich jedoch ziemlich wenig zu berichten. Ich tappe im Ungewissen und frage mich verzweifelt, wer denn nun der Mörder ist. Manchmal schaue ich mir klammheimlich – getrieben von quälender Ungewissheit – während meiner zweiten Pause die verpasste Schlusssequenz an. Das Privileg, auf Knopfdruck jede Passage eines Films mehrfach zu geniessen, öffnet Türen zu neuen Formen des cinematografischen Hochgenusses.

„J’avais une vie dingue...“
Kürzlich hat es mir ein französischer Film besonders angetan: „Quand j’étais chanteur“ mit Gérard Depardieu in der Rolle eines alternden Nachtklubsängers zog oder zieht mich nicht nur wegen Depardieus unnachahmlichem Charisma in seinen Bann, sondern mit Sicherheit auch weil der gute Mann sich – ähnlich wie der Schreibende – in einer Phase des Umbruchs befindet. Zum einen hält der „Chansonnier“ augenzwinkernd Rückschau auf Vergangenes, indem er den Moment – angeheizt durch die Affäre mit einer jungen Frau – zur kritischen Betrachtung seiner Lebenssituation nutzt. Im gleichnamigen Titelsong des Sondtracks bemerkt Depardieu, der sämtliche Chansons übrigens selber singt (!), „J’avais une vie dingue...quand j’étais chanteur“.
Um sämtlichen Vermutungen, Gerüchten und neidvollen Betrachtungen vorzubeugen, halte ich an dieser Stelle klar und deutlich fest, dass ich, im Gegensatz zur Filmfigur, nicht in amouröse Bandeleien involviert bin. Aussereheliche, meine ich! Wäre ich aber hier und jetzt gezwungen, Rückschau auf mein Leben zu halten, so käme ich, ähnlich wie Depardieu, ebenfalls zur Erkenntnis, dass mein Leben „dingue“ verläuft oder verlaufen ist. Wie oft schon habe ich mir im Verlauf der vergangenen zwölf Monate doch heimlich auf die Schulter geklopft und zum Entschluss, nach Abu Dhabi zu ziehen, gratuliert.
Das Glück ist uns hold. Kann sein, dass der morgenländische Lebensrhythmus und die kaum existenten Verbindlichkeiten unterbewusst eine „Laisser faire“-Haltung vermitteln. Alles wirkt lockerer und geht bestimmt auch mit einer gewissen Oberflächlichkeit einher. Dadurch entsteht eine Entspanntheit, die den Alltag prägt und – zumindest mir – durchwegs ein angenehmes Lebensgefühl vermittelt.
Tatsache ist auch, dass es der ganzen Familie gut gefällt und dass ich meine Arbeit in arabischen Cockpits ausserordentlich geniesse.
















Freudiges Arbeiten im Etihad-Cockpit

Selbstverständlich täuscht dies nicht über so manchen Mief hinweg. Speziell im Zusammenhang mit der Einsatz- und Ferienplanung ärgere ich mich regelmässig. Diese Bereiche weisen meiner Meinung nach die grössten Schwachstellen auf. Das Fliegen selber ist äusserst abwechslungsreich, gespickt mit zahlreichen neuen Herausforderungen. Wer als Linienpilot bei einer etablierten Fluggesellschaft Anstellung gefunden hat, wechselt in der Regel seinen Arbeitgeber nur aufgrund besonderer Umstände. Solchen „besonderen Umständen“ verdanke ich letztlich meine aktuelle Lebenssituation. Und ich bin froh darüber.

„Je fais de la chaise longue...“
...singt Depardieu weiter. Nun ja – davon träumen wir alle: Ein bisschen fliegen und daneben die Sonne und den Müssiggang geniessen. Die Seele baumeln und die Haut bräunen lassen.













...de la chaise longue...

Doch die Praxis sieht nach 365 Tagen anders aus. Franziska wütet in der Schule und ich im Eishockeyclub. Und hier gerate ich unweigerlich ins Grübeln. Denn die Parallelen zu vergangenen „Stadler Zeiten“ sind beinahe erschreckend. Franziska verbringt nicht selten Vormittage am Telefon und Abende an Sitzungen. Die Namen der Beteiligten haben geändert, der Rest bleibt sich gleich. Neben dem Elternbeirat und dem Festkomitee arbeitet sie seit kurzem auch in einer „Abitur-Steuergruppe“ mit, die sich mit Fragen und Anforderungen des an der DSAD einzuführenden internationalen Abiturs befasst. Ausserdem betreut sie zusammen mit zwei weiteren Müttern die Schülerbibliothek.
Ich meinerseits habe das äusserst angenehme und engagierte „Rundschau-Team“ durch einen etwas weniger homogenen Eishockeyclub-Vorstand getauscht. Angereichert mit einer international durchmischten Gruppe ehrgeiziger Eltern, die sich nichts mehr als „Gerechtigkeit und Loyalität“ bei der Zusammenstellung der einzelnen Mannschaften wünschen. Die Coaches sehen das natürlich etwas anders, wobei auch sie sich nicht immer gänzlich einig sind.
Aber auch wenn meine Schilderungen in Sachen Schularbeit oder Eishockeyvorstand negative Nebentöne vermerken, so muss ich doch betonen, dass sowohl Franziska als auch ich diese Aufgaben gerne übernehmen. Denn selbstverständlich erhalten wir auch erfreuliche Feedbacks und aufmunternden Beistand!
Doch es erstaunt, wie sich zwei erwachsene Personen, in einem fremden Land, umgeben von völlig neuen Menschen innerhalb Jahresfrist in beinahe erschreckenden Parallelen verfangen...

„Les excès de vitesse, je ne les payais jamais…“
Diesbezüglich haben wir mehrfach grosses Glück gehabt. Regelmässig kontrolliere ich im Internet mein Bussenkonto. Rein wie eine Kinderseele! Keinen müden Fils haben wir bis heute bezahlen müssen. Natürlich fahren wir – im Besonderen ich – ständig zu schnell. Das tun hier jedoch alle, die Einheimischen einfach ein bisschen mehr. Anders als in der Schweiz interveniert die Polizei aber nicht. Niemand bekommt ein schlechtes Gewissen, wenn er mit überhöhter Geschwindigkeit eine Verkehrspatrouille überholt. Solange es nicht knallt, wird nicht eingegriffen. Verkehrs- oder Alkoholkontrollen wie wir sie kennen, werden in Abu Dhabi keine durchgeführt. Da müssten die armen Kerle ja noch arbeiten. Lieber rollen sie gemächlich mit ihren Streifenwagen auf dem Highway dahin. Kürzlich beobachtete ich folgende Szene: Ein Autofahrer stand vor dem Rotlicht und hantierte äusserst konzentriert mit seinem Handy. Offensichtlich schrieb er ein SMS, was auch hierzulande nicht erlaubt ist. Derweilen zwei Polizisten auf Motorrädern neben ihm anhielten und ihn eingehend bei seinem Tun beobachteten. Die Ampel wechselte auf grün, der Fahrer merkte natürlich nichts und beschleunigte seinen Wagen erst, als hinter ihm gehupt wurde. Formel 1 mässig brauste er los – die beiden Polizisten liessen ihn ungehindert ziehen und wechselten die Spur, und wenig später auch die Strasse. Der Automoblilist hatte sie wahrscheinlich gar nie bemerkt, und die beiden Beamten hatten keine Lust, sich auf unnötige Diskussionen einzulassen.

„Je m’éclatais comme und bête…“
So singt Depardieu. Ich mag es ihm gönnen. Auch wir amüsieren uns allenthalben. In Anstand und mit Mass. Wenig Alkohol, kaum Exzesse.
Da die Temperaturen ansteigen und dem Tennisspiel kaum noch zuträglich sind, habe ich nach Alternativen Ausschau gehalten. Von einem Arbeitskollegen erfuhr ich, dass im Hotel „Le Méridien“ ein guter Squash-Coach wirkt. Also ging ich vorbei und verabredete mich gleich zur ersten Trainerstunde. Alte Erinnerungen an mittelmässige Turnier- und Interclubzeiten in den frühen 80er Jahren wurden wach. Immerhin habe ich es dereinst bis zur Nummer 351 der Schweiz geschafft. Heute verkommt dies zur bedeutungslosen Zahl. Schall und Rauch. Denn beim Coach aus Pakistanischen Landen handelt es sich um keinen Geringeren als den Cousin der ehemaligen Weltnummer 1 Jahangir Khan, welcher während rund drei Jahren ungeschlagen war und die Squash-Welt nach Belieben dominiert hatte.
Nomen est omen. Faiz, sein 49-jähriger Cousin, war zwar nie ein Weltklassespieler, für mich ist er jedoch alleweil eine Nummer zu gross. Mindestens! So laufe ich mir denn die Beine müde, wetze mir die Haut von den Zehen und schreie mir frustriert die Kehle heiser. Der Schein mag trügen, aber das Trainieren und Spielen mit dem Meister macht Spass. Nach einigen Übungen, die Faiz „Routine practise“ nennt, wird gespielt. „Social practise“ nennt der Coach diesen Teil der Stunde. Und nach 40 Minuten im angenehm klimatisierten Court ist mein T-Shirt mindestens so nass wie nach zwei Stunden Outdoor-Tennis bei 40 Grad im Schatten. Faiz und ich amüsieren uns beide und ich freue mich an jedem Punkt, den ich gegen ihn im Schweisse meines Angesichts erkämpfe. Mit jedem Training verbessert sich mein Spiel und spätestens seit ich weiss, dass in Abu Dhabi eine Liga gespielt wird, hat mich das alte Fieber wieder gepackt.

A propos "s'éclater" und "comme une bête": Gefeiert wird unser erstes Jahr mit Martin und Judy, die just zum richtigen Zeitpunkt eine Woche in Abu Dhabi in den Ferien weilen. Ihr 20. Hochzeitstag fällt genau auf unser Jahresjubiläum! Grund genug, im Restaurant "Fishmarket" animalische Schlemmereien zu geniessen.

Depardieu beginnt sein Lied übrigens mit der Zeile „J’ai mon rheumatisme qui devient génant...“ Nicht so bei mir. Noch ist mein Schritt federnd, noch treibe ich Sport. Und das wird hoffentlich noch eine Weile so bleiben.



















Auf ein weiteres Jahr...!

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