Sunday, October 17, 2010

Besuch

Der Homo Sapiens ist ein soziales Wesen. Ein Rudeltier, ähnlich wie der Wolf, auch wenn er seine Gemütslage nicht jederzeit und für alle Welt ersichtlich mit der Haltung seiner Rute kundtut. Menschen verwirklichen sich unter anderem in sozialen Beziehungen; Dazu gehören Kontakte mit Verwandten und Freunden. Wechselnd in Intensität und Dauer, unterschiedlich auch in Motivation und Engagement.
Zu einem Leben als Expat gehört unweigerlich der Umgang mit dem Thema Gäste und Besuch. Ich habe es bis anhin, aus Rücksicht auf liebe Verwandte und teure Freunde, tunlichst vermieden, das äusserst heikle Thema in diesem Blog aufzunehmen. Liess die ersten vier Jahre die Launen der Natur walten und wehrte mich nicht, wenn der Wind die Spuren im Sand zerzauste. In der fürsorglichen Absicht, keine schlafenden (Wüsten)Hunde zu wecken.

Jetzt aber scheint der Moment gekommen, vielleicht das zweitletzte Wüstenspuren-Tabu zu brechen. Mit gutem Grund: Das Pièce de Résistance der Gästebeherrbergung ist geknackt. Wir haben in unserem urbanen Vogelkäfig (in dem ich mich mittlerweile pudelwohl fühle...) Rekordarbeit geleistet, und auf für uns engstem Raum, die für uns grösste Zahl von Besuchern einquartiert. Asiatische Grossstadt-Verhältnisse an der Delma Street.

Vor zwei Wochen sind Franziskas Bruder Daniel mit seiner Frau Gitte und den vier Teenie-Töchtern Larissa, Melina, Rilana und Rebecca bei uns eingetroffen. Sogar unser grosszügig dimensionierter Toyota Prado vermag die stattliche Truppe nicht zu schlucken, als Franziska am frühen Morgen, mit verschlafenem Blick, den Besuch am Flughafen in Empfang nimmt.
Zuhause angekommen, richten wir uns ein, so gut es geht. Zehn Seelen verteilt auf drei Doppelbetten und zwei Ausziehsofas. Ein TV-Gerät, vier Laptops sowie eine unübersichtliche Anzahl Handys garantieren bei Aufenthalten in der Wohnung unununterbrochene Unterhaltung und störungsfreie Kommunikation mit dem Rest der Welt. Waschmaschine und Tumbler, Geschirrspüler und Espressomaschine stehen im Dauerbetrieb. Der Lärmpegel steigt und hält sich während einer Woche auf wackerem Niveau. Dann fliegen Larissa und Melina wieder in die Schweiz. Nicht weil es ihnen zu eng oder zu laut wird, sondern ganz einfach weil die Arbeit ruft.

Seit wir nach Abu Dhabi gezogen sind, besuchen uns regelmässig Freunde und Verwandte. Dass dies geschehen würde, war von Anfang an klar. Wenn es zu Diskussionen über anstehende Besuche aus der Heimat kommt, können Expats regelrecht ins Wetteifern geraten. Nicht nur, dass sie mit der Anzahl ihrer Gäste prahlen, vielmehr verlieren sie sich immer wieder in der Schilderung abenteuerlichster Wüstentouren. Auch überbieten sie sich unentwegt in der Lokalisierung neuer Schnäppchen-Shops und Einkaufs-Mekkas. Ein geschickt eingeflochtener Seufzer oder das qualvolle Verdrehen der Augen sollen signalisieren, dass manchmal alles ein bisschen viel wird.

Seien wir ehrlich: Wer Gäste in den eigenen vier Wänden einquartiert, lässt die Hosen mindestens bis zu den Knien runter. Offenbart Einblick ins sonst sorgsam abgeschirmte Privatleben. Teilt den Zank über nicht entsorgten Abfall oder die Diskussionen über unerledigte Schularbeiten nicht nur mit Frau und Kindern, sondern gleichzeitig mit vielen der Besucher. Der Kampf um verlängerte Ausgehzeiten und herumliegende Kleider verkommt zur Arena im Kleinformat. Statt Hundertausenden von Fernsehzuschauern sind es nur zwei, drei, vielleicht vier Gäste. Dafür sind sie hautnah dabei, und bekunden ihr Interesse nicht selten duch aktive Teilnahme an der belebten Runde. Mitten drin die Protagonisten: Die Mutter als Moderatorin, die Kinder als stimmgewaltige Wortführerinnen (der sonst schon laute Geräuschpegel legt nochmals um einige Dezibel zu...) – und der Vater, wie meist, als Advocatus Diaboli.
Wer Besucher einquartiert muss auch akzeptieren, dass andere bereits langgestreckt auf der Couch lümmeln, wenn Mann oder Frau selber lümmeln wollen. Dass die TV-Fernbedienung fest von Gästehand umklammert ist, wenn auf SF2 gerade die Sportschau anläuft. Oder dass sich die Halbwertszeit des in der hintersten Ecke des Kühlschranks gelagerten Lieblingskäses drastisch reduziert, und der suchende Griff am Abend ins Leere tastet.
Ein nicht zu unterschätzendes Kapitel ist der Versuch, die Tagesabläufe zu synchronisieren. Schule und Arbeit treiben die Gastgeber früh aus den Federn, während die Besucher oftmals erst ab Mitternacht so richtig auf Touren kommen. Die Kinder sollten sich um ihre Hausaufgaben kümmern, die Mutter um die schleppende Weiterbildung und der Vater um den ungestörten Geldfluss aufs Lohnkonto. Damit verbunden sind Nachtflüge und spontane Powernaps zu jeder beliebigen Tagesstunde. Meist dann, wenn die Besucher laut diskutierend ihre Siebensachen für den Strandausflug zusammensuchen.
Immer mehr kommt es vor, dass uns die Gäste gar eine Nasenlänge voraus sind: Für eine Fahrt mit der Dubai-Metro oder den Besuch auf dem Burj Khalifa hat es bei uns einfach noch nicht gereicht.

Mit der Familie von Franziskas Bruder lief es erstaunlich gut. Das lag nicht zuletzt am selbstlosen Engagement der Gäste. Nach dem Nachtessen strahlte die Küche jeweils blitzblank, noch ehe sich Franziska oder ich mich vom Tisch erhoben hatten. Kühlschrank und Weingestell wurden zünftig geleert aber grosszügig nachgefüllt, so dass mich bei ihrer Abreise beinahe das schlechte Gewissen plagte.
A propos schlechtes Gewissen: Wer sich ob dem Geschriebenen betroffen fühlt, dem kann an dieser Stelle leider nicht geholfen werden. Wer die obigen Zeilen mit einem Schmunzeln pariert, kennt mich wohl bereits zu gut. Auch in diesem Fall wird Abhilfe schwierig.

In aller Regel bleibt es kaum bei einem Besuch im Jahr. Sinkende Temperaturen verheissen vermehrt Gäste. Daniel und seine Familie sind mittlerweile wieder abgereist. Nun ist uns eine Woche Erholungspause gegönnt, dann werden Franziskas Eltern in Genf ins Flugzeug steigen. Anschliessend folgen liebe Freunde aus dem Zürcher Unterland, und nach einer weiteren Rekonvaleszenzphase rüsten wir uns auf den Besuch meines Bruders.
Wenn er uns schliesslich verlassen wird, ist bereits Mitte Dezember, und Weihnachten steht vor der Tür. Das Fest, an dem wir uns endlich ungestört mit Familie und Freunden treffen können...














6 comments:

Anonymous said...

Sind das "all inclusive"-Bändeli an den Armen Deiner Verwandten auf dem zweiten Foto? :-)

Liebe Grüsse Luki

Dide said...

@Luki: Du stellst Fragen, lieber Luki... Keine Ahnung, die Bändeli waren weg, als die Verwandten zuhause eintrudelten. Das Foto wurde nach der Besichtigungstour der Formel 1 Strecke geschossen. Ich nehme an, dass es sich dabei um die Eintrittsbändeli handelte.

Anonymous said...

Ach so...
Und ich dachte, die bekommt man, wenn im Ferien-Resort "Eppler" eingecheckt wird :-)

Grüsse aus der Schweiz!
Luki

Dide said...

Aha, jetzt weiss ich, wie der Hase läuft...

Am "All-Inclusive Package" arbeiten wir noch. Zurzeit bestehen Mängel in den Bereichen Infrastruktur und Personal. Gut Ding will eben Weile haben...

Gruss

Anonymous said...

*Lach* Jetzt fuehle ich mich irgendwie ausgeschlossen :o) Nach 7 Jahren in Neuseeland habe ich es nur auf einen einzigen Verwandtenbesuch gebracht. Liegt aber auch daran, dass wir wohl echt zu weit weg wohnen.
Liebe Gruesse aus Neuseeland
Gisela

Dide said...

@Gisela: ...jede Münze hat bekanntlich zwei Seiten...
Irgendwann wird die Welle überschwappen!

Liebe Grüsse Dieter (gerade in Melbourne, quasi gleich um die Ecke)