All animals are equal
Die Schweiz, mein Heimatland. Patria mia. Jeder Eidgenosse ist stolz auf die Tugenden Helvetiens; Die „-keiten“ reihen sich ähnlich aneinander wie die 22 Kicker zweier Fussballmannschaften vor dem Champions League Spiel: Sauberkeit, Genügsamkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit. Ausserdem sind wir weltberühmt für unsere Schokolade, unseren Käse, unsere Kühe, unsere Jodler, unsere Alphörner und unsere Uhren. Die Banken, dereinst Aushängeschild mit vorzüglichem Ruf, haben sich gewandelt zu verbeulten Werbetafeln mit zwielichtigem Renommé. Doch sie sorgen nach wie vor dafür, dass die Welt von der Schweiz redet. Die Bundesverfassung bildet das Fundament zahlreicher nationaler Meriten, ist Grundlage unseres Rechtssystems und Garant für rechtsstaatliches Handeln und Denken. Politische Institutionen sorgen dafür, dass Gesetze eingehalten und Verfehlungen geahndet werden. Man stellt Bussen aus, verhaftet Rechtssünder, fällt Gerichtsurteile. Mehr noch. Unsere Regierung belegt den Tschad mit Sanktionen, weil das Land die von uns gekauften Pilatus-Flugzeuge nicht vertragskonform eingesetzt hat. Dass immer wieder auch Exponenten politischer Behörden oder anderer staatlicher Institutionen mit dem Gesetz hadern, scheint in der Natur des Menschen – auch des helvetischen – zu liegen. Dass den einen etwas mehr erlaubt ist als anderen, ebenfalls. „All animals are equal but some are more equal than others“! Das kennen wir doch...?
Ihr mögt euch nun fragen, wieso ich dazu komme, auf derartige Art und Weise die Vorzüge Schweizerischer Tugenden zu persiflieren. Vielleicht, weil ich in einer Airline, die Menschen aus über 80 verschiedenen Nationen beschäftigt, immer wieder mit vermeintlichen Vor- und Nachteilen diverser Länder konfrontiert werde, mit Clichés, die über viele Jahre gewachsen sind, um irgendwann zu verschmelzen mit Vorstellungen anders Denkender. Dabei gibt es so viele kleine und grosse Beispiele, die belegen, wie sehr die Ausnahme die Regel bestätigt. Überhaupt: Wann ist eine Ausnahme eine Ausnahme im eigentlichen Sinn, und wer bestimmt, wann die Ausnahme zur Regel verkommt? Die Frage liesse sich natürlich auch umgekehrt formulieren. Die Antwort gründet wohl kaum ausschliesslich in prozentualen Mehr- oder Minderheitsrelationen.
Juristische Wundertüte
Dem Gesetz entgegen steht die Willkür. Eigenschaft mancher Herrscher und Diktatoren. Wer aber glaubt, solch despotisches Verhalten wäre ausschliesslich in unterentwickelten oder ungenügend geregelten Staatsformen anzutreffen, der täuscht. Nicht nur bei Toyota ist „nichts unmöglich“, das wahre Leben lässt ebenso Spielraum für Überraschungen zu.
Seit zwei Jahren versuchen wir, die Eigentumsverhältnisse der vor der Abreise in die Emirate gekauften Ferienwohnung im Berner Oberland zu entwirren. Drei Parteien, der Notar eingeschlossen, haben den damaligen Kaufvertrag unterschrieben. Doch alsbald stellt sich heraus, dass für den gemäss Formulierung ausschliesslich uns gehörenden Dachstock auch andere Stockwerkeigentümer Besitzansprüche geltend machen. Glauben wir zu jenem Zeitpunkt noch in naiver Verblendung an die Aussagekraft Eidgenössischer Verträge, so werden wir im Verlauf der vergangenen 24 Monate eines Besseren belehrt. Weder der grossmundige Notar noch die widersprüchlichen Aussagen des Grundbuchamtes vermögen Klarheit in die Angelegenheit zu bringen. Ein Anwalt wird eingeschaltet, scheint sich aber mit diversem Kleingedrucktem schwerzutun. Man stelle sich vor: Ein (vermeintlich) vertraglich geregelter Kauf einer Wohnung entpuppt sich im Rechtsstaat Schweiz als juristische Wundertüte, deren Zündschnur auch nach zwei Jahren noch feuchtet. So warten wir also weiter auf den grossen Knall und begleichen derweil artig die Telefon- und Internetspesen unseres Anwalts.
Gegensätze
Die Aussicht vom Balkon der Ferienwohnung lassen wir uns deswegen nicht vermiesen. Genauso, wie wir uns auch den Aufenthalt in Abu Dhabi nicht durch gewisse an der Tagesordnung liegende vertragliche Unzulänglichkeiten verderben lassen.
Ein kurzer Blick aus dem Fenster des fahrenden Zuges überzeugt mich einmal mehr von den topografischen Schönheiten unseres Landes. Ich gerate ins Grübeln und laufe in Gefahr, den Faden zu verlieren, schweife ab. Die mittlerweile hoch am Himmel stehende Sonne spiegelt sich im Genfersee. Im Hintergrund türmen sich massige Berggipfel mit schneeweissen Kappen. Der Schnee ist, trotz krassen Gegensätzen, ein Pendant zum Sand: Sand und Schnee prägen in vielfältiger Form weitläufige Landstriche, wenn auch in unterschiedlichen Breiten- und Längengraden. Man kann auf beiden Unterlagen rutschen, einsinken und sich wunde Hände schaufeln. Kann an die Füsse frieren oder sich die Sohlen verbrennen. Schnee und Sand wüten in Stürmen und hinterlassen unangenehme Spuren an Kleidern oder Haut, die es vor dem Betreten des Hauses abzuklopfen gilt.
Sand und Schnee – so gegensätzlich wie Rechtsstaat und Willkür! Und doch so nah beieinander.
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